H.E. Erwin Walther

„Die graphische Notation … war und ist für mich eine Möglichkeit, musikalische oder andere akustische Verläufe augenfälliger zu notieren als in der herkömmlichen Notenschrift. Das setzt bei den Interpreten eine weitgespannte Auseinandersetzung mit der musikalischen Moderne, ferner die Gabe der Improvisation und die Gabe, graphische Verläufe in der Koordinate waagrecht-senkrecht, d.h. Tonhöhe-Zeit und in ihren Infrastrukturen in akustische Verläufe umzusetzen, voraus. Ein wesentlicher Teil der Praxis ist der Prozess des ‚Lesens‘, des Begreifens und dann das Einbringen eigener Vorstellungen im Rahmen der vorgegeben Graphik, die praktisch das ‚Spielfeld‘ darstellt, in dessen Grenzen das ‚Spiel‘ des oder der Interpreten verläuft. Der Interpret ist in großem Maße ‚Mitschöpfer‘.“
(H.E. Erwin Walther, ca. 1975)

 

Die musikalische Graphik als eine Form mehrdeutig interpretierbarer Notation entwickelte sich seit etwa 1952. Der Komponist Roman Haubenstock-Ramati, der den Begriff „Musikalische Graphik“ prägte, organisierte 1959 in Donaueschingen die erste Ausstellung.
Heute umfasst der Bereich der musikalischen Graphik ein umfangreiches Gebiet; vielerlei Formen lassen sich mit diesem recht unscharf erscheinenden Begriff in Verbindung bringen.
Auch Erwin Walthers Begriff „Audiogramm“ ist unscharf. Er ist unscharf, weil Walther damit graphische Notationen ebenso bezeichnet wie Collagen aus bunten Folien und „reine“ gezeichnete Graphiken; die letztgenannten überwiegen zahlenmäßig bei weitem.
Darüber hinaus ist der Begriff „Audiogramm“ in seiner Aussage unscharf. „Audiogramm“ – zu übersetzen etwa als „Hörschrift, lesbar als musikalisch strukturierte Graphik, als ‚Optische Musik‘“. Walther selbst sagt: „Ein Audiogramm will eine Beziehung herstellen zwischen Graphik und Akustik. Es ist ein Aktionsfeld, das den Interpreten freilässt, in dessen Rahmen er sich ausspielt, das ihn anregt.“

Etwas detaillierter – und durchaus visionär - äußert sich Walther, wenn er davon spricht, dass „die Realisation (Retroversion) …
     a) geistig (Meditation)
     b) praktisch (instrumental, elektronisch oder auch phonetisch)
geschehen [kann]. Meine persönlichen akustischen Vorstellungen treten im Falle der Retroversion durch andere Interpreten zurück.
Durch die Fertigung der optischen Partitur habe ich ein Aktionsfeld abgesteckt, innerhalb dessen jeder anders agieren kann, mit seinen Mitteln und Möglichkeiten, heute, in 20 oder 100 Jahren, ob in Asien, Amerika, Europa oder Australien. Heute sind die akustischen Vorstellungen andere als in 100 Jahren, auch die Realisationsmittel. Meine optischen Anweisungen sind Stimulanzien (auch vom Ästhetischen her).
Die Retroversion meiner Partituren geschieht auf der Grundlage der Improvisation. Nicht Harmoniefolgen oder ein „Cantus firmus“ sind für die Interpreten bindend, sondern die graphischen „Straßen“ und „Felder“ der Partitur sollen ihn zu einer völlig freien Äußerung seiner akustischen Vorstellung stimulieren.“

Insgesamt sind in den Jahren 1966-1990 ca. 360 Arbeiten entstanden, die Walther „Audiogramm“ nennt.
Zu unterteilen wären die Graphiken Walthers in drei Kategorien:

  1.   Die graphischen Notationen auf Millimeter- und Notenpapier, z.T. auch farbig, bilden den Bereich der strengsten Festlegung und schaffen für musikalische „Aufschreibungen“ einen verbindlichen Raum.

  2.   Die „reinen“ gezeichneten Graphiken, auch diese z.T. farbig, lassen dem Betrachter ebenso wie dem Musiker alle Freiheiten der Interpretation.

  3.   Unabhängig von der Wahl eines bestimmten Farbmaterials, besteht die Möglichkeit der Zuordnung einer spezifischen Farbe zu einem spezifischen Instrument bzw. einer Instrumentengruppe.

Der Avantgardist Erwin Walther vermag bis zu jenem Stadium vorzudringen, in dem er einen Wort-Text nicht mehr in notierbare Töne umsetzt, sondern in nicht-notierbare klingende Farben und Bildstrukturen, die ihren Klang im Kopf des Betrachters entfalten: „Kaspar ist tot“ (1989) von Hans Arp wird übersetzt in 15 kraftvolle farbige Blätter, zu deren Projektion ein Sprecher Arps Text rezitiert.

Alle Graphiken befinden sich im Privatbesitz von Tochter Michaela Grammer und liegen teilweise digitalisiert vor.

Text nach: Thomas Emmerig: Musikalisch strukturierte Graphiken und „Optische Musik“ – H.E. Erwin Walthers „andere“ Musik, in: Bieler, Emmerig, Kraus, Simon: Komponisten in Bayern, Band 36, Tutzing 1998

"Natürlich war es keine Anti-Musik im Sinne etwa einer Kriegserklärung an die Musik als Kunstgattung, sondern es war eine Sichtbarmachung meiner akustischen Vorstellungen auf dem kürzesten Weg. Das Ergebnis ist eine Graphik, auf ein Zeichenblatt oder auf eine sich fortsetzende Reihe von Blättern projiziert."
(H.E. Erwin Walther, ca. 1979)

Hörbeispiele

Aus: Katenarien (1972)
Interpret: Peter Bruns, Violoncello

Aus: Katenaria für Klavier solo  (1972)
Interpret: Frank Gutschmidt, Klavier

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